karolingische Kunst

karolingische Kunst
karolingische Kunst,
 
die Kunst des Fränkischen Reiches zur Zeit der Karolinger. Chronologisch folgt sie im Stammland auf die merowingische Kunst und in den Randgebieten des Fränkischen Reiches auf weitere Kunstströmungen der Völkerwanderungszeit (langobardische, westgotische, keltische Kunst). Sie ist Ausdruck für das Bemühen Karls des Großen um eine »renovatio« des römischen Imperiums (karolingische Renaissance). Es gelang der karolingischen Kunst, Anschluss an die spätantike und frühchristliche Kunst des Mittelmeergebietes zu finden und deren Erbe in eigenständiger Weise und in Auseinandersetzung mit irisch-angelsächsischem ornamentalem Formenvokabular zu verarbeiten. Als Vermittler wirkten v. a. angelsächsische Mönche, vorbildhaft durch die in England bereits um 700 vollzogene Synthese der verschiedenen Kunstströmungen, die kennzeichnend wurde für die karolingische Hofschule um 800.
 
In der Baukunst wurden vom Süden Zentralbautypen übernommen, so in der Pfalzkapelle in Aachen (um 800 geweiht), der Kirche in Germigny-des-Prés (806 geweiht) und in der als Friedhofskapelle erbauten Rotunde von Sankt Michael in Fulda (geweiht 821), die man alle in Anlehnung an byzantinischen Vorbilder errichtete. Für karolingische Großbauten wurde der Typus der frühchristlichen Basilika maßgebend (ehemalige Abteikirche in Saint-Denis bei Paris, 775 geweiht; Basiliken Einhards in Steinbach im Odenwald, um 820-827, und Seligenstadt, um 830-840). Die karolingische Kunst entwickelte die Doppelchoranlage (Stiftskirche in Fulda, 790-819) und das Westwerk (Centula, Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters Corvey, 873-885). Der Bauplan von Sankt Gallen (um 820) vermittelt die genaue Vorstellung einer Klosteranlage jener Zeit. Als »römischstes« karolingisches Bauwerk gilt die wohl vor 875 entstandene Torhalle des Klosters Lorsch mit ihrer Triumphbogenarchitektur, bei deren Fassadendekoration antike Formelemente verarbeitet wurden. Pfalzen konnten durch Ausgrabungen rekonstruiert werden (Aachen, Ingelheim).
 
Von größter Bedeutung ist die Buchmalerei, die sich im Umkreis des Aachener Hofes in zwei fast gleichzeitigen, doch stilistisch stark differierenden Schulen entwickelte. Schon die erste Handschrift der Hofschule, das zur Adagruppe (Adahandschrift) gehörende Godescalc-Evangelistar (zwischen 781 und 783; Paris, Bibliothèque Nationale de France), bringt die für das ganze Mittelalter gültige Ausstattung des Evangelienbuches mit ganzseitigen Initialen, Kanontafeln und großfigurigen Evangelistenbildern, die Texte in Gold und Silber auf Purpur. Italien und Byzanz waren Quellen der nach einem plastischen Menschenbild strebenden Darstellungsweise, die Ornamentik ist von der irisch-angelsächsischen Buchmalerei beeinflusst. Mit dem Dagulf-Psalter (zwischen 783 und 795; Paris, Louvre) und dem Codex aureus aus Lorsch (um 810; Rom, Vatikanisch Sammlungen, und London, Victoria and Albert Museum) haben sich Handschriften der Hofschule mit ihrem vollständigen Deckelschmuck erhalten. Die Elfenbeintafeln des Lorscher Evangeliars, Höhepunkt der in zahlreichen Beispielen überlieferten karolingischen Elfenbeinkunst, folgen in Aufbau und Gestaltung dem Vorbild fünfteiliger Diptychen spätantiker Zeit. Reines Nachleben spätantiker Formen zeigt die gleichfalls in Aachen entstandene Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars (Ende des 8. Jahrhunderts; Wien, Kunsthistorisches Museum). Sie ist in der Ausstattung den Handschriften der Hofschule ähnlich, übt jedoch größere Zurückhaltung in der Ornamentik und zeigt eine andere Konzeption der Evangelisten, die nicht mehr in einem architektonischen Rahmen erscheinen, sondern von einer illusionistischen Landschaft umgeben sind. Von der karolingischen Mosaikkunst geben allein die Reste des Apsismosaiks von Germigny-des-Prés (um 800) Zeugnis. Zahlreicher sind die erhaltenen Fragmente von Wandmalereien (Sankt Prokulus in Naturns, um 800; Sankt Benedikt in Mals, Anfang des 9. Jahrhunderts). Die Bronzetüren und Emporengitter des Aachener Münsters (um 800) belegen eine hoch entwickelte Gusstechnik. Beispiele der Goldschmiedekunst aus der Zeit Karls des Großen sind der Tassilokelch (um 780; Kremsmünster, Schatzkammer der Abtei), das Rupertuskreuz (Ende des 8. Jahrhunderts, Bischofshofen, Pfarrkirche), der Adelhausener Tragaltar (um 800; Freiburg im Breisgau, Augustinermuseum) und die Stephansbursa (Anfang des 9. Jahrhunderts; Wien, Kunsthistorisches Museum).
 
Reste von Wandmalereien der nachfolgenden Epoche finden sich u. a. in der Krypta von Saint-Germain in Auxerre (855), im Westwerk der Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters Corvey (um 870), in der Torhalle des Benediktinerinnenklosters Frauenchiemsee (Mitte des 9. Jahrhunderts) und in Sankt Johann in Müstair (Kanton Graubünden, Ende des 9. Jahrhunderts). Der Schwerpunkt der Buchmalerei verlagerte sich nach Westen. Bezeichnend für die Werke der »Reimser Schule« (u. a. Utrechtpsalter, um 830, Bibliothek der Rijksuniversiteit; Ebo-Evangeliar, vor 835, Épernay, Bibliothèque Municipale) ist eine stark bewegte Ausdrucksweise. Weitere Zentren sind die »Schule von Tours« (Vivian-Bibel, um 845/846; Paris, Bibliothèque Nationale de France) und die wohl in Paris zu lokalisierende »Hofschule Karls des Kahlen« (Codex aureus aus Sankt Emmeram in Regensburg, 870; München, Bayerische Staatsbibliothek). Stilistisch dem Utrechtpsalter verwandt sind Elfenbeinarbeiten der Liuthardgruppe, die unter Karl dem Kahlen gleichfalls in Reims hergestellt wurden (Einbanddeckel des Psalters Karls des Kahlen, um 860-870; Paris, Bibliothèque Nationale de France). Bedeutende Goldschmiedearbeiten dieser Zeit sind der Goldaltar (»Paliotto«) des Wolvinius von Sant'Ambrogio in Mailand (um 840), das Ardennenkreuz (zweites Viertel des 9. Jahrhunderts; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum), der Einbanddeckel des Codex aureus von Sankt Emmeram in Regensburg und das Arnulf-Ziborium (um 870; München, Schatzkammer der Residenz).
 
 
A. Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karoling. u. sächs. Kaiser, 8.-11. Jh., 3 Bde. (1914-18, Nachdr. 1969/70, 2 Bde.);
 W. Koehler: Die karoling. Miniaturen, Bd. 1-3 (1930-60);
 
Karl d. Gr. Lebenswerk u. Nachleben, hg. v. W. Braunfels, Bd. 3: K. K. (1965);
 
Karl d. Gr., Werk u. Wirkung, Ausst.-Kat. (1965);
 W. Braunfels: Die Welt der Karolinger u. ihre Kunst (1968);
 J. Hubert u. a.: Die Kunst der Karolinger (a. d. Frz., 1969);
 
Die karoling. Miniaturen, hg. v. W. Koehler u. a., Bd. 4 u. 5 (1971-82);
 W. Messerer: K. K. (1973);
 F. Mütherich u. J. Gaehde: Karoling. Buchmalerei (a. d. Engl., 1976);
 C. Heitz: L'architecture religieuse carolingienne (Paris 1980);
 C. Beutler: Statua. Die Entstehung der nachantiken Statue u. des europ. Individualismus (1982);
 M. Durliat: Die Kunst des frühen MA. (a. d. Frz., 1987).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
karolingische Renaissance: Erbe der Kulturen
 
Buchmalerei: Schriftbild, Initiale, Ornament und Illustration
 
karolingische Kunst: Westwerk und Doppelchor
 

Universal-Lexikon. 2012.

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